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Warum das „Erstarren“ unser Schutzengel ist

In meinem Blogbeitrag „Das Märchen von den bewussten Entscheidungen“ vom 17.06.25 habe ich euch beschrieben, wie die vielen Reize, die tagtäglich auf uns einwirken, unter normalen Umständen verarbeitet werden – und dass all unsere Handlungen emotionsgeleitet sind, da die erste Verarbeitung im Mandelkern, der Amygdala, geschieht.

In diesem Beitrag möchte ich dir zeigen, wie unser Gehirn in Stresssituationen reagiert – denn da läuft einiges ganz anders.

Unser Körper verfügt über ein erstaunlich kluges System, das blitzschnell entscheidet, ob wir in Sicherheit oder in Gefahr sind: das autonome Nervensystem. Viele kennen die typischen Reaktionen auf Bedrohung: Kampf oder Flucht. Doch was oft übersehen wird – und ebenso wichtig ist – ist die dritte Möglichkeit: das Erstarren oder „Totstellen“, wenn keine andere Option mehr möglich oder sinnvoll erscheint.


Was dabei als „aussichtslos“ erlebt wird, ist höchst individuell – und hängt stark mit unserer inneren Widerstandskraft, unserer Resilienz, zusammen.


Stell dir folgende Situation vor: Ein großer Hund rennt auf ein kleines Kind zu. Die Sinnesreize gelangen über unser „Tor zum Bewusstsein“ zur Amygdala – unserem inneren Gefahrenradar. Dort heißt es: Alarmstufe Rot! Stresshormone werden ausgeschüttet, die Atmung beschleunigt sich, das Herz rast – doch die Situation ist so überwältigend, dass weder Flucht noch Kampf möglich erscheinen. Das Kind erstarrt – es ist gelähmt vor Angst.

In diesem Moment sind die Verbindungen zum Großhirn, unserem „Denker“, und zum Hippocampus – der für unser Erinnerungsvermögen zuständig ist – blockiert. Solange wir in diesem Zustand der Übererregung sind, ist logisches Denken nicht möglich.


Das hat zwei wichtige Konsequenzen:

1.   Wir können nicht rational reagieren. Beruhigende Worte wie „Der Hund tut nichts, der will nur spielen“ erreichen das Kind nicht. Sprache kommt nicht an, weil das Gehirn auf „Überleben“ gestellt ist. Was jetzt hilft, ist etwas anderes: Mitgefühl, Sicherheit, Nähe. „Ich sehe, dass du Angst hast. Ich bin da. Ich halte dich. Ich schütze dich. “Diese Haltung vermittelt: Du bist nicht allein. Du bist sicher. Du wirst gehalten.

2.   Das Erlebte wird unvollständig und ungeordnet abgespeichert. Eindrücke wie Bilder, Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen werden an verschiedenen Orten im Gehirn abgelegt – aber nicht als zusammenhängende Erinnerung gespeichert. Später kann ein harmloser Auslöser – ein Geruch, ein Ton, ein Wort – diesen alten Alarm erneut auslösen. Oft wissen wir dann gar nicht, warum wir so stark reagieren. Doch unsere Amygdala erkennt blitzschnell eine Parallele und entscheidet wieder: Gefahr!

Später im Leben führt es – oft durch scheinbar harmlose Auslöser – plötzlich wieder in diesen Alarmzustand und oft wissen wir gar nicht, warum. Aber unser Mandelkern, die Amygdala, erkennt unbewusst eine Parallele und entscheidet in Sekundenbruchteilen: „Großalarm!“


Warum ist dieses Wissen so wichtig?

Weil es uns hilft, mehr Mitgefühl für uns selbst und andere zu entwickeln. Statt uns zu fragen: „Warum überreagiere ich so?“ oder „Warum kriegt sich das Kind nicht einfach wieder ein?“, können wir verstehen: Diese Reaktionen ist ein uralter Schutzmechanismus.

Manchmal ist genau das Erstarren unser innerer Schutzengel – ein letzter Weg, uns selbst vor einem zu großen Schmerz zu bewahren.

Unser Körper tut in solchen Momenten sein Bestes. Und auch wenn das im Nachhinein „unlogisch“ wirken mag – es hat uns geholfen, zu überleben.

Wir können lernen, achtsamer mit den Reaktionen unseres Körpers umzugehen. Wir begreifen, dass wir in aufgewühlten Momenten nicht „funktionieren“ müssen – sondern dass es zuerst um Sicherheit, Verbindung und Erdung geht. Erst wenn unser Nervensystem sich wieder beruhigt hat, können Denken, Reflektieren und Lernen wieder stattfinden.

Auch im Umgang mit Kindern oder anderen Menschen hilft dieses Wissen enorm:

Wir erkennen, wann Worte nicht helfen und das Dasein, Mitfühlen und Sicherheit geben viel mehr bewirken.


Dieses Verständnis kann also ein Schlüssel sein – hin zu mehr Selbstregulation, zu einem liebevolleren Miteinander und zu echter emotionaler Heilung.

Übrigens: Die EMDR-Methode ist eine Möglichkeit, um solche überwältigenden Erfahrungen nachträglich zu verarbeiten. Sie unterstützt dabei, das Erlebte im Gehirn geordnet abzuspeichern – so, wie es ursprünglich hätte geschehen sollen. Das Nervensystem darf sich beruhigen, die innere Alarmanlage wird leiser, und wir erleben oft mehr innere Ruhe, mehr Gelassenheit – und ein neues Gefühl von Sicherheit.


Schreib mir gerne, wenn du Gedanken, Fragen oder eigene Erfahrungen teilen möchtest. Ich freue mich, von dir zu lesen.


Herzlich Deine Nicole

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